Ein Kirchgemeindehaus zieht um ...

Wie lebten und wohnten unsere Eltern und Großeltern? – Wie lebte und lebt, wie wohnte und wohnt unsere Kirchgemeinde?

1883 wurde in der heutigen Friedrich-Marschner-Straße, damals Böhmestraße, später Bismarckstraße, der Fabriktrakt errichtet; um das Jahr 1900 ließ der Nadelfabrikant Emil Hermann Steiner dazu in der Augustusstraße 9, dann Hindenburgstraße, dann Ernst-Thälmann-Straße, heute Straße der Deutschen Einheit, den Wohntrakt dazu bauen.

1929 nach der Insolvenz der Firma erwarb die Kirchgemeinde die Gesamtimmobilie.
Die ehemaligen großen Maschinensäle in der ersten und zweiten Etage wurden als Versammlungsräume genutzt; die zahlreichen genieteten massiven Stahlsäulen störten immer die Bewegungsfreiheit und die Raumsicht.
Außer einem größeren Raum im ersten Obergeschoss war vor allem im Erdgeschoss ein größerer Raum der wichtigste Versammlungsraum für Gemeindekreise, Sitzungen und Beratungen usw. — Etwa um 1980 renovierte und modernisierte die Junge Gemeinde diesen Raum, der seitdem offiziell "Jugendzimmer" hieß. — Bis zum November 1999 war es auch der Raum für die Christenlehre und den Konfirmandenunterricht. Auch hier störten die Säulen sehr; vereinzelt nutzten "wilde" Kinder die Säulen als Kletterstangen! Vermutlich wurde dann im Unterricht gerade das Thema "Säulenheilige" behandelt?!

Nach 1945 bis 1990 war das Dienstleistungskombinat (DLK) mit Hauptsitz in Werdau für den damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt der Mieter für den Fabriktrakt. Es war der Sitz für die zentrale Lohnbuchhaltung des Kombinates. In den 1980er Jahren wurde ein ganz moderner leistungsfähiger Großrechner eingebaut.
Der obere Saal war wieder mit schweren Maschinen für u. a. Zeltherstellung und -reparatur ausgerüstet worden. Wegen des Lärms und der sehr intensiven Energienutzung konnte die Kirchgemeinde an den Arbeitstagen den unteren Saal tagsüber nicht nutzen.
Im Hof war die zentrale Heizungsanlage für alle Gebäude als geschlossenes System, die auf Kohlebasis betrieben wurde und entsprechend umweltbelastend war.

Es gab auch einen "stillen Mieter": Als sich 1990 das Kombinat auflöste, zog in einen Teil der Verwaltungsräume für einige Monate die Verwaltung der Handelskette, die in Burgstädt auf dem Anger den ersten Supermarkt eröffnete. Herr Dr. K. plante und koordinierte mit seinen Mitarbeitern den Aufbau des ersten Großmarktes.

Mit der Auflösung des Kombinates verloren die Bürger unserer Stadt ein weit gefächertes preisgünstiges Angebot an Dienstleistungen unterschiedlichster Art.
Unsere Kirchgemeinde verlor die Mieteinnahme und einen Mieter, der zu jeder Zeit und in jedem Falle ein zuverlässiger und kooperativer Partner war.
Nach 1990 nutzte die Stadtmission Chemnitz mit der Werkstatt für Behinderte im Erdgeschoss einige Räume zur Produktion und Reparatur; inzwischen ist sie längst im Gewerbegebiet Herrenhaide im viel größeren Rahmen präsent. Sie waren sozusagen die letzten "richtigen Mieter".
1985 und 1986 während der großen Kirchensanierung fanden auch die Konfirmationen in dem Saal statt, unter sehr erschwerten Bedingungen; es gab eine "Zulassungsordnung", wegen der geringen Platzkapazität wurde die Gemeinde - einmalig!!! - gebeten, zu Hause zu bleiben, damit der Platz reichte für die Eltern, Paten und nächsten Angehörigen.
Im Winterhalbjahr fanden die Gottesdienste im Saal meistens in einer "belasteten Atmosphäre" statt: hohe Raumtemperatur, zu wenig Sauerstoff, schlechte Akustik.
Aber es gab auch eine sehr heimelige Atmosphäre: Vor Beginn des Gottesdienstes war unter meinem Stuhl plötzlich eine Katze, die es sich in meinem Talar gemütlich machte; unser langjähriger verdienter Küster Herr Schramm geleitete sie liebevoll hinaus. Im Laufe der Jahre fanden immer wieder Taufen im Saal statt; eine Trauung und Segnungen zu Ehejubiläen fehlen ebenfalls nicht.
Langsam aber sicher tauchte die Frage auf, wie soll es weitergehen mit dem alten Gemeindehaus? Ein fast sicherer Verkauf scheiterte. Eine grundhafte Modernisierung? Oder gar ein Ersatzneubau? Der alte schon recht desolate Fabrikschornstein rauchte und stank weiter bis Ende November 1999.

Einige Jahre zuvor war eine wichtige und gewichtige Entscheidung des Kirchenvorstandes gefallen: Es hatte sich der "Förderverein Neues Kirchgemeindehaus e. V." gegründet…

… Noch rauchte und stank der Fabrikschornstein im Hof des alten Kirchgemeindehauses. Im Kirchenvorstand rauchten die Köpfe; im Landeskirchenamt runzelten sich die Stirnen; in der Gemeinde häuften sich die besorgten Fragen "Wie soll es weitergehen?".

Es wurde beraten, beschlossen und genehmigt: ein Ersatzneubau. Das Preisgericht, bestehend aus Vertretern des Kirchenvorstandes, der Stadtverwaltung, berufener Fachberater und unter Vorsitz des Initiators und Mediators Friedrich Steitz tagte auf Einladung der Stadtverwaltung im historischen großen Ratssaal des Rathauses. Die Ausschreibung hatte sieben Entwürfe erbracht. Wie auch bei den Diskussionen im Kirchenvorstand wurde nach dem Prinzip der klassischen Dialektik verfahren: These - Antithese - Synthese. Der Siegerentwurf fand in der Öffentlichkeit viel Zustimmung und vereinzelt auch Skepsis bis Ablehnung.
2012 dürfen wir nach zwölf Jahren des äußerst erfolgreichen Betriebes zufrieden feststellen: Die damaligen Skeptiker hatten u. a. gesagt, der Entwurf gleiche dem für eine Kaufhalle. Wie beschrieben, wurden die Entwürfe für die erste Kaufhalle unserer Stadt tatsächlich im alten (!) Kirchgemeindehaus erstellt. Heute diskutieren viele Bürger über viele und zu viele Kaufhallen; über das Neue Kirchgemeindehaus wird wohl nicht mehr diskutiert, wenn schon, dann darüber, wie die vielen, vielen Veranstaltungen alle unterzubringen sind.

Ende November 1999 fand unter ganz aktiver Beteiligung der Gemeinde der Umzug statt. Zwei Sachen wurden sehr problematisch: Es galt das sehr umfangreiche historisch äußerst wertvolle Notenarchiv vom Boden des alten Hauses sach- und fachgerecht in die Kirche zu überführen. Die Treppen im alten Haus mussten die schwerste Last ihrer Geschichte ertragen, nicht übergewichtige Menschen, sondern der große Konzertflügel musste hinuntertransportiert werden.
Was es nun nicht mehr gibt: Die Festzüge der Konfirmanden und Jubelkonfirmanden vom alten Haus in die Kirche; die problematische Synchronisation zwischen Veranstaltungsbeginn und rechtzeitigem Glockengeläut; die schwere und schmutzige Heizerarbeit u. v. a. m.
Neben dem Umzug von 1999 wird ein Festumzug vom alten Haus zur Kirche unvergesslich bleiben: erster Adventssonntag 1986 — nach zweijähriger Bauzeit Wiederweihe der Stadtkirche — viele Gemeindeglieder und viele Gäste und Schaulustige — Kirchvorsteher,angeführt von Schmiedemeister Gottfried Kreßner tragen die Abendmahlsgeräte und die liturgischen Bücher — ein Programm für den Festgottesdienst wurde wegen "mangelndem Papierkontingent" nicht genehmigt. Es wären etwa 900 Programme gewesen. Nach Absprache fertigte die Druckerei eine Einlage mit dem Programm für jeden Kirchenboten, dessen Auflage aber 1500 Stück betrug. Die Firma konnte nachweisen, dass ausschließlich Papierreste verwandt wurden!
Vergessen ist inzwischen längst das mühsame Treppensteigen im alten Hause; vergessen ist die winzige Küche, die nur von einer sehr dünnen Wand zur Küche der Pfarrwohnung getrennt war; es war immer mühelos zu hören und zu riechen, was hüben und drüben gesprochen und zubereitet wurde, vergessen ist auch die alte unzureichende Toilettenanlage …

Das neue Haus hat mittlerweile den zweifachen bischöflichen Segen erhalten: Landesbischof Volker Kreß trug sich am 136. Tag nach der Weihe des Hauses in das Goldene Buch der Kirchgemeinde ein. Im Oktober 2010 leitete dessen Nachfolger Jochen Bohl den regionalen Pfarrertag in der Stadtkirche und im Gemeindehaus. Sitz und Ort des integrierten Kirchenbezirkes Glauchau-Rochlitz wurde Burgstädt zwar nicht. Aber wie Leipzig neben Dresden steht, steht Burgstädt neben Glauchau. Superintendent Jenichen verkündete, dass alle Pfarrerdienstbesprechungen in Burgstädt sein werden. Mehr noch als schon im alten Hause sind im neuen sehr viele unterschiedliche übergemeindliche kirchliche Veranstaltungen u. dgl. Dazu kommen u. a. kommunalpolitische Ereignisse, aus der Vielzahl seien herausgegriffen der Festakt der Stadtverwaltung im September 2003 zum großen Stadtjubiläum, das Konzert der Jazzband der Robert-Schumann-Philharmonie zum Auftakt der Kulturtage 2011.

Im Mittelpunkt des alten wie neuen Hauses stand und steht natürlich die Gemeinde. Säulenkletterer wird es nicht mehr geben, im Hause und um das Haus herum ist reichlich Gelegenheit zum Spielen und Austoben und zur Geselligkeit. Wir sitzen nicht mehr auf den alten Klappstühlen und befinden uns überhaupt in einem behindertenfreundlichen Gebäude in angenehmer Atmosphäre. Die Junge Gemeinde hat ihren eigenen selbstgestalteten Bereich.
Das Pfarramt ist im Hause integriert. Das Diakonische Werk Rochlitz unterhält im früheren Pfarramt eigene Büros und Beratungsstellen. Es ist und bleibt reformatischer Ansatz: Die Kirche (als ganzes) muss immer erneuert werden. Unser Förderverein bleibt "am Ball", gemeint ist hier vor allem die ergänzende Nachrüstung, etwa der Sonnenschutz in dem Saal usw.
Wir sind jederzeit offen für Anregungen, Wünsche und Beiträge betreffs unseres Hauses. Wenden Sie sich einfach an Pfarrer i. R. Werner, oder lassen Sie sich über das Pfarramt verbinden.

Das Psalmwort ist zwar alt, bleibt aber immer neu und aktuell:

Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt.

 

Pfarrer i. R. Werner, im März 2012

Erstveröffentlichung: Burgstädter Anzeiger 01.03.2012 und 08.03.2012